Cannstatter Volksfestzeitung 2018

dere daran ist der gestärkte und gekulmte Spitzenkragen („Tatzl“), der die Beweglich­ keit am Hals ordentlich ein­ schränkt, aber sehr edel wirkt. Schon kommt der erste von drei weißen und recht steifen Unterröcken an die Reihe. Alle müssen vorsichtig über den Kopf. Reinsteigen geht nicht. „Man kann übrigens mit den vielen Röcken der Festtags­ trachten später nicht mehr sitzen“, klärt die Vorsitzende auf und ergänzt, „nur noch in der Kirche knien.“ Übrigens können die Damen jetzt auch nicht mehr auf die Toilette, da alles miteinander fixiert ist, damit nichts verrutscht. An­ nikas vierter und letzter Rock dass etwas fest auf meinem Kopf sitzt“, beschreibt Annika ihren bunten Kopfschmuck. Rosina Reim merkt an, dass Spiegelchen und Flitter die bösen Geister und den Teu­ fel fernhalten sollen. „Es kann unserer Braut also nichts passieren“, sagt sie und lacht herzlich. Schnell zeigt sich jetzt, warum sich keine Frau hier vollständig alleine anzie­ hen kann und warum die Um­ zieherei so lange dauert. Die Damen kramen in ihren gro­ ßen Taschen, in denen die Ein­ zelteile der Tracht sorgfältig eingerollt liegen. Zuvor noch rasch ins „Miaderl“ geschlüpft, eine kurzärmelige, kunstvoll bestickte Bluse. Das Beson­ so große Füße“, stellt sie mit Blick auf ihre Schuhgröße 40 fest und arrangiert sich mit den verfügbaren Damenschu­ hen so gut es geht. Derweil liegt ihr Haar gebürstet und gescheitelt. Die Trachtenkol­ leginnen flechten einen grü­ nen Wollzopf ein, legen die­ sen als Kranz um ihren Kopf und fixieren alles routiniert mit Wollfäden am Haupthaar. Es folgen die Hörner: zwei breite orangefarbene Bänder, die zusammengelegt, mit ei­ ner Nadel fixiert und aufge­ stellt den Kopf zieren. Dann kommen das bunte und mit Spiegeln versehene „Flitter­ kranzl“ und die schmückende Borte hinzu. Lange Haarna­ deln verleihen zusätzliche Stabilität. Eine aufwendig be­ stickte Schleife bildet den Ab­ schluss am Hinterkopf. „Es ist nicht schwer, aber ich merke, fahrener Hände und Annikas Geduld. Nebenbei erzählt die junge Frau, dass sie schon als eineinhalbjähriges Mädchen in der Tracht dabei war, denn „bei uns ist die ganze Familie aktiv. Die Oma hat zum Glück viele Trachten im Fundus. Es handelt sich um wertvolle Ori­ ginaltrachten, die mitunter an die heutigen Träger und Trägerinnen angepasst wer­ den müssen“, plaudert Annika aus dem Nähkästchen. Zumal man die Trachten nicht wa­ schen, sondern nur lüften könne, was die Oma in ihrem Garten nur zu gerne mache. Bei ihrer Körpergröße von 180 Zentimeter sei zum Beispiel „Anstückeln“ unumgänglich gewesen, erzählt Annika. Auch mit den Originalschuhen ist es nicht so einfach. „Die Frauen waren damals nicht so groß und hatten auch nicht Kleine Geschichtsstunde Die Wischauer Sprachinsel war eine deutsche Sprach­ insel in Südmähren und blickt auf eine lange Geschichte zurück. Sie bestand aus acht kleinen Dörfern mit rund 3500 Einwohnern und existierte bis zum Ende des Zwei- ten Weltkrieges. Vor der Vertreibung war es eine in sich geschlossene Gesellschaft mit eigenen Regeln, Sitten und Bräuchen, die gepflegt wurden. Aus dieser Zeit stammen auch die vererbten Originaltrachten, welche die hier vor- gestellte Trachtengruppe hegt und pflegt und ab und an in der Öffentlichkeit präsentiert. Gewusst? Den Spitzenkragen zu plissieren und stärken erfordert Fingerspitzengefühl und Erfahrung. >> Die herrlichen Details der schmucken Trachten sind besonders aufwendig und auffällig. >> 50 ❤ Cannstatter Volksfestzeitung 2018

RkJQdWJsaXNoZXIy NDAzMjI=